Der Rare Disease Day – einmal im Jahr, immer Ende Februar, wird die Aufmerksamkeit der Welt auf seltene Erkrankungen gelenkt. Zumindest theoretisch. In der Praxis empfinde ich diesen Tag als groß angelegtes Schaulaufen, das wenig bis nichts bewirkt abseits von Aufmerksamkeit für Konzerne aus dem Gesundheitssektor. Statt nachhaltiger Verbesserungen erlebe ich vor allem eines: Oberflächlichkeit und eine massive Anfälligkeit für sogenannten Inspiration Porn, bei dem Menschen mit Behinderungen dermaßen auf ein Podest gehoben werden, dass sie letztendlich doch wieder allein auf ihre Behinderung reduziert werden – zum vermeintlichem Antrieb nichtbehinderter Menschen.
Oberflächlichkeit und Symbolpolitik, auch an diesem Tag

An diesem Tag werden Betroffene als tragische Helden inszeniert, deren Lebensrealität sich in herzzerreißenden Storys oder schillernden Kampagnen erschöpft. Doch sobald der Kalender umgeblättert wird, ist all das schnell vergessen.
Dieser eine Tag schafft keine Barrierefreiheit, keine bessere Versorgung und keine gerechtere Welt – er vermittelt nur den Anschein, etwas getan zu haben. Kein öffentlicher Raum wird durch diesen Tag zugänglicher gemacht, keine Krankenkasse stockt ihre Leistungen für dringend benötigte Hilfsmittel auf, und keine Regierung ändert ihre Prioritäten zugunsten der Betroffenen. Es bleibt bei leeren Gesten und kurzfristiger Aufmerksamkeit, ohne greifbare Ergebnisse.
Der Rare Disease Day bietet für viele Organisationen die perfekte Gelegenheit, sich im Glanz von Inklusionsrhetorik zu sonnen. Doch was bleibt für Betroffene? Nichts, außer dem Gefühl, als Teil einer gut vermarktbaren Kulisse instrumentalisiert zu werden. SMA, meine Behinderung, wird auf ein Symbol reduziert, auf einen winzigen Puzzlestein im großen Bild der seltenen Erkrankungen.
Dabei geht es um weit mehr. Mein Alltag ist komplex, herausfordernd, und oft bin ich mit strukturellen Problemen konfrontiert, die an keinem Tag des Jahres wirklich adressiert werden. Von fehlender Teilhabe bis hin zu nicht finanzierbaren Hilfsmitteln – kein Hashtag wird diese Realitäten ändern.
Inspiration Porn: Lass mich an deiner Behinderung laben

Ein weiterer Aspekt, der mich stört, ist die Tendenz, Betroffene zu idealisieren oder zu romantisieren. Sie werden als “Kämpfer” dargestellt, als “Inspiration” für die nichtbehinderte Gesellschaft, die schlicht nicht den Antrieb hat, Ziele zu verfolgen, weil sie sich durch unser vermeintlich “schweres Schicksal” motiviert fühlen möchte, eigene Herausforderungen als weniger bedeutend wahrzunehmen. Diese narrative Überhöhung lenkt aber gehörig davon ab, worum es wirklich gehen sollte: Chancengleichheit, Barrierefreiheit und systematische Unterstützung.
Inspiration Porn mag für manche rührend sein, aber für mich ist er entmenschlichend, weil er uns auf ein Objekt der Bewunderung reduziert, statt uns als Menschen mit individuellen Stärken und Bedürfnissen wahrzunehmen wie bei jedem anderen sonst auch.
Er zementiert die Idee, dass unser Wert primär in unserer Funktion liegt, andere zu inspirieren, und ignoriert dabei die strukturellen Hürden, mit denen wir täglich konfrontiert sind. Es geht nicht darum, uns zu bewundern oder zu bedauern, sondern darum, sich auf Augenhöhe zu begegnen und die Hindernisse zu beseitigen, die ein Leben mit chronischer Erkrankung unnötig erschweren.
Taten statt Tage

Was ich mir wünsche, ist kein weiterer symbolischer Aktionstag, sondern echte Veränderungen. Investitionen in Bildung, Gesundheitsversorgung und Forschung sind dringend notwendig. Wir brauchen keine Kampagnen, die für einen Moment die Aufmerksamkeit auf uns lenken, sondern ein System, das uns das ganze Jahr über die gleichen Chancen wie Menschen ohne Behinderungen ermöglicht.
Ein zentraler Punkt wäre die Einbindung von Betroffenen in Entscheidungsprozesse. Beispiele wie der Einbezug von Behindertenbeauftragten in kommunale Planung oder die Mitgestaltung barrierefreier Angebote durch Interessenvertretungen zeigen, dass solche Ansätze funktionieren können.
Derartige Modelle müssen jedoch nicht die Ausnahme bleiben, sondern zur Regel werden. Wir sind keine Statisten in einer großen Marketingmaschinerie, sondern Menschen mit Erfahrungen und Expertise. Unsere Stimmen müssen gehört werden, nicht nur am Rare Disease Day, sondern jeden Tag.
#nichtmeintag

Für mich ist der Rare Disease Day mehr Problem als Lösung. Er verstärkt Klischees und fördert Oberflächlichkeit, ohne echte Veränderungen zu bewirken. Statt Betroffene nachhaltig zu unterstützen, werden sie zu Schaufensterpuppen einer Welt, die sich für einen Tag besser fühlen will.
Dieser vermeintliche Aktionismus lenkt von den eigentlichen Problemen ab und schafft keine strukturellen Verbesserungen. Die wirklichen Herausforderungen liegen in der fehlenden Barrierefreiheit, dem Mangel an finanzieller Unterstützung für dringend benötigte Hilfsmittel und der fehlenden politischen Bereitschaft, nachhaltige Lösungen für Betroffene zu schaffen. Für mich hat dieser Tag daher keine Daseinsberechtigung.
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