Menschen mit Behinderungen in Videospielen – Fortschritt, Pixel für Pixel

Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit Doned Radiuju in ”Final Fantasy Tactics Advance” in meiner frühen Spielerjugend. Ein Charakter, der sofort meine Aufmerksamkeit fesselte – zuerst, weil er wie ich im Rollstuhl war, später aber auch, weil er mehr als seine Fortbewegungsmöglichkeit zur Handlung beitrug.

Seine Behinderung ist nicht bloß ein erzählerisches Mittel, um Mitleid zu erregen. Stattdessen wird er als eigenständige Figur mit nachvollziehbaren Motiven dargestellt, deren Handlungen man nicht unbedingt sympathisch findet – ohne zu viel zu spoilern.

Genau das machte das Spiel für mich als junger Heranwachsender zu etwas Besonderem: Zum ersten Mal fand ich mich in einer Figur wieder, die eine Behinderung hatte, aber weder auf ihre Einschränkung reduziert noch als tragische Gestalt inszeniert wurde.

Pixel bleiben nicht immer nur Pixel

Als Kind machte ich mir keine Gedanken darüber, ob es Charaktere mit Behinderungen in Videospielen gibt. Ich spielte einfach. Die fantastischen Welten zogen mich in ihren Bann, ohne dass ich bewusst nach jemandem suchte, der mir ähnlich war. Doch je älter ich wurde, desto mehr fiel mir auf: In den meisten Spielen existierten Menschen wie ich schlicht nicht.

Glücklicherweise beginnt sich das zu ändern. Immer mehr Games trauen sich, Charaktere mit Behinderungen nicht nur sichtbar zu machen, sondern sie auch auf authentische Weise zu gestalten – jenseits von Inspirations-Kitsch oder tragischer Elendsdarstellung. Perfekt ist das alles noch nicht, aber es wird besser. Und das ist es, was zählt. Einige Beispiele – alt wie neu – beschreibe ich euch nachfolgend. Obacht: Für folgende Spieltitel folgen gegebenenfalls massive Spoiler:

  • Shin Megami Tensei
  • Ace Attorney: Justice for All
  • Celeste

Die graue Eminenz: Steven aus der Shin-Megami-Tensei-Reihe

Ein herausragendes Beispiel ist Steven aus der Shin Megami Tensei-Reihe. Steven ist ein brillanter Wissenschaftler, der aufgrund eines mit einem Unfall mit einem Dämon auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Trotz dieser Einschränkungen spielt er eine zentrale Rolle im Universum der Reihe, indem er maßgeblich an der Entwicklung des berühmten COMP-Systems beteiligt ist, das es den Protagonisten ermöglicht, Dämonen zu beschwören und mit ihnen zu interagieren.

Was ”Shin Megami Tensei” besonders gut macht, ist die Art und Weise, wie es Stevens Behinderung in seine Figur integriert. Er wird nicht als gebrechlich oder hilflos dargestellt, sondern als ein außergewöhnlich intelligenter und einflussreicher Charakter, der sich gar an der Gestaltung der Welt als solche beteiligt.

Seine Rolle zeigt eindrucksvoll, dass körperliche Einschränkungen nicht bedeuten, dass jemand weniger fähig oder einflussreich ist – im Gegenteil, seine geistige Überlegenheit und seine technischen Innovationen machen ihn zu einem der prägendsten Charaktere der gesamten Reihe, weshalb er auch in vielen Ablegern zumindest als treibende Kraft auftaucht.

Keinesfalls nur Opfer: Acro aus ”Ace Attorney: Justice for All”

Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel ist Ken “Acro” Dingling aus ”Ace Attorney: Justice for All”. Acro ist ein Zirkusartist, der nach einem tragischen Unfall querschnittsgelähmt ist und seitdem im Rollstuhl sitzt. Seine Geschichte ist tief mit Schuld, Verlust und Rache verwoben, was ihn zu einem der komplexesten Charaktere des Spiels macht.

”Ace Attorney: Justice for All” integriert Acros Behinderung geschickt in die Handlung. Sie ist nicht nur ein zufälliges Charaktermerkmal, sondern ein wesentlicher Bestandteil seiner Motivation. Seine Einschränkung bestimmt jedoch nicht seine gesamte Identität – er bleibt ein intelligenter, kalkulierender Charakter, der mit Charisma und Scharfsinn agiert.

Das Spiel zeigt eindrucksvoll, dass Behinderung nicht gleich Hilflosigkeit bedeutet. Acro bleibt ein fähiger und entschlossener Mensch, dessen Entscheidungen und Pläne schwerwiegende Konsequenzen für sein Umfeld haben. Seine Darstellung beweist, dass Charaktere mit Behinderungen in Videospielen vielschichtig, moralisch ambivalent und tiefgründig sein können – weit entfernt von eindimensionalen Darstellungen, die sie nur als Opfer oder Inspiration präsentieren.

Schritt für Schritt zum Ziel: ”Celeste”

Repräsentation geht jedoch über das rein Sichtbare hinaus. ”Celeste” zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie psychische Erkrankungen in ein Spiel eingebunden werden können, ohne ins Klischeehafte abzurutschen.

Die Protagonistin Madeline kämpft nicht nur mit einem tückischen Berg, sondern auch mit ihrer Angststörung. Ihre Rückschläge und Erfolge sind authentisch, ihr Fortschritt ist nicht linear – wie im echten Leben. ”Celeste” integriert dieses Thema sogar ins Gameplay: Das wiederholte Scheitern, das ständige Aufrappeln und Weitermachen spiegeln die Realität vieler Menschen mit psychischen Herausforderungen wider. Im Übrigen gibt es im Spiel auch ein gutes Ensemble an Optionen für Barrierefreiheit.

Die Botschaft ist klar: Herausforderungen sind nicht unüberwindbar, aber der Weg ist nicht immer einfach. Statt Mitleid oder romantisierte Melancholie bietet ”Celeste” eine respektvolle und nachvollziehbare Auseinandersetzung mit mentalen Hürden – und zeigt, dass Repräsentation nicht nur für Betroffene selbst wichtig ist, sondern auch für alle, die neue Perspektiven verstehen wollen.

Selbstverständlich, ohne Tamtam: Duster aus ”Mother 3”

Ein Beispiel für eine gelungene Repräsentation ohne Tamtam ist Duster aus ”Mother 3”. Duster ist ein Dieb mit einer Gehbehinderung, die sein Gangbild beeinflusst, ihn aber nicht daran hindert, ein unverzichtbares Mitglied der Heldengruppe zu sein. Seine körperliche Einschränkung wird nicht zum zentralen Punkt seines Charakters gemacht, sondern als Teil seiner Identität in die Handlung integriert.

”Mother 3” zeichnet sich durch eine respektvolle Darstellung aus, indem es Duster nicht auf seine Behinderung reduziert. Vielmehr nutzt das Spiel seine Fähigkeiten auf eine humoristisch-sympathische Weise, um ihn als wertvollen Kämpfer darzustellen. Auch sein Handlungsbogen hält Entwicklungen bereit, die sich nicht um seine Behinderung als solche scheren.

Diese Art der Inklusion zeigt, dass Behinderung nicht mit Schwäche gleichzusetzen ist, sondern Charaktere mit Einschränkungen ebenso aktiv an Abenteuern teilnehmen und die Geschichte entscheidend mitgestalten können.

Was noch fehlt – und was möglich wäre: Barett Wallace aus ”Final Fantasy VII”

Trotz dieser positiven Beispiele gibt es immer auch Negativbeispiele. Besonders in AAA-Titeln bleibt die Darstellung oft oberflächlich oder klischeehaft. Ein prominentes Beispiel ist Barret Wallace aus ”Final Fantasy VII”. Barret ist einer der wenigen prominenten Charaktere mit einer sichtbaren Behinderung im Gaming – sein rechter Arm wurde durch eine Schussprothese ersetzt. Anstatt seine Behinderung realistisch oder vielschichtig zu thematisieren, wird diese fast ausschließlich als Kampfgadget inszeniert.

Seine Prothese macht ihn in Kämpfen stärker, ohne dass jemals darauf eingegangen wird, wie sich diese künstliche Erweiterung auf sein tägliches Leben auswirkt. Es gibt keine Momente, in denen Barret Herausforderungen im Umgang mit seiner Prothese zeigt – weder bei alltäglichen Aufgaben noch in emotionalen Situationen. Stattdessen wird sein mechanischer Arm als reine Waffe dargestellt, die keinerlei Auseinandersetzung mit sich bringt.

Im Remake von ”Final Fantasy VII” wurde Barret zwar tiefergehend geschrieben, doch auch hier bleibt seine Prothese ein reines Kampfelement. Das Spiel zeigt weder, wie Barret im Alltag mit seiner Behinderung umgeht, noch dass er Schwierigkeiten durch seine Prothese hat – sie funktioniert immer einwandfrei. Dadurch verpasst ”Final Fantasy VII” auch im zweiten Anlauf die Chance, Körperbehinderung nicht nur als visuelles oder kämpferisches Gimmick darzustellen, sondern auch als echten Bestandteil eines Charakters.

Videospiele könnten genau das Gegenteil zeigen: eine realistische Auseinandersetzung mit Prothesen, die nicht nur als Waffen dienen, sondern auch alltägliche Herausforderungen mit sich bringen. Wie wäre es, wenn ein Spiel sich trauen würde, eine Figur mit einer mechanischen Prothese zu zeigen, die zwar mächtig austeilen kann, aber nicht perfekt funktioniert, die regelmäßig gewartet werden muss oder die im Kampf auch mal Probleme verursacht? So könnte Gaming zeigen: Körperliche Einschränkungen sind nicht nur visuelle oder coole Design-Elemente, sondern Teil eines realistischen Lebens.

Mehr als Pixelschieberei wagen

Repräsentation muss nicht immer laut sein. Manchmal reichen kleine, durchdachte Details, um einen Unterschied zu machen – sei es ein Charakter, der sich selbstverständlich in einer Welt bewegt, oder Spiele, die mit anpassbaren Steuerungen inklusiver werden.

Videospiele können mehr als nur unterhalten. Sie haben die Kraft, Empathie zu fördern, neue Perspektiven zu eröffnen und gesellschaftliche Normen zu hinterfragen.

Wenn Entwickler mutig genug sind, weiterhin vielfältige Geschichten mit authentischen Charakteren zu erzählen, kann Gaming zu einem Medium werden, das nicht nur spiegelt, sondern auch aktiv zu einem inklusiveren Verständnis der Welt beiträgt. Sie können Perspektiven öffnen, Barrieren abbauen und Menschen in ihrer ganzen Vielfalt zeigen. Umso wichtiger ist es, dass Entwickler diesen Weg weitergehen – denn Repräsentation mag vielleicht nur ein Pixel hier und da sein, aber sie bedeutet Fortschritt.

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